Interview auf Der ErnstFall Michael Schmidt August 2021 Das vollständige Interview hier. Auszug: Michael Schmidt: Silke, stell dich doch mal vor! Silke Brandt: Erst mal einen ganz herzlichen Dank für dieses Interview, ich freue mich wirklich wahnsinnig!
Ich wurde 1967 in Wiesbaden geboren, wobei meine Familie aus Norddeutschland bzw. eine Großmutter aus Polen stammt. In Berlin studierte ich Anglistik, Kunstgeschichte und Politologie; arbeitete als Projektleitung im mittleren Management (Marketing). Nebenbei war ich Co-Leiterin eines internationalen Independent-Filmfestivals und schrieb off & on für Feuilletons und Festivalprogramme. Daraus ergaben sich erste Verlagspublikationen. 2008 wanderte ich nach Helsinki aus, arbeitete hier u.a. als Leiterin & Kuratorin eines kleinen Filmfestivals, später als Praktikantin (Kulturproduktion, Antiquariat). Seit 2011 nimmt das Segeln einen immensen Raum in meinem Leben ein – v.a. race sailing mit Jachten und Großseglern – was sich durch Familienrecherche ergab: mein Urgroßvater mütterlicherseits war Großsegler-Kapitän. Ich absolvierte in Finnland eine halbjährige Matrosenausbildung und arbeitete zwei Jahre vollberuflich als Matrosin auf niederländischen Zwei- und Dreimastern (Ost- und Nordsee). Ein Arbeitsunfall und die Pandemie führten zum ersten finnischsprachigen Job in einem Briefzentrum, der mir viel Zeit zum Schreiben lässt und die doppelte Staatsbürgerschaft bescherte. Schiffe segle ich in den finnischen Schären zum Spaß weiter.
Michael Schmidt: Wie würdest du deine Prosa charakterisieren?
Silke Brandt: Irgendwo in der Schnittmenge Spekulativer Realismus, Dystopie und Dunkle Phantastik / Horror. Vieles ist – weil mir exzessive Recherche Spaß macht – Parallel History, dabei lese ich was Prosa betrifft definitiv eher zukunftsgerichtetes: Hard SF und Cosmic / Nihilistic Horror. Normalität im Sinne des Status Quo gibt es nicht, ebenso wenig wie Katharsis oder ein „Grauen, das in den Alltag einbricht“ – Menschen „wie du und ich“ interessieren mich nicht. Ich möchte die Sichtweisen, Ängste und Probleme von Figuren erzählen, die gewöhnlicherweise selbst als Monster gesehen werden. Es gibt immer ein übergeordnetes Thema – etwas, das mir fremd ist, das ich erforschen möchte, sei es Psycho(patho)logie, Archäologie/Historik oder Naturwissenschaft. Sicher die Hälfte meiner Erzähler ist männlich – für mich eine sehr angenehme, neutrale Perspektive.
Michael Schmidt: Was ist dir wichtig bei phantastischen Geschichten? Sowohl bei den selbst verfassten als auch bei dem was du liest?
Silke Brandt: Eine eigene Stimme, eine schräge Sicht, ein sense of wonder, sprachliche Finesse bzw. handwerkliche Präzision. Ich liebe starke Erzähler – das können ungewöhnliche Individuen sein oder auch neutrale Leerstelle, durch deren Augen wir das Geschehen erleben (wie z. B. bei Lovecraft). Aktuelle Prosa, die versucht, den Erzähler als wertende Instanz zu negieren und im Deep Point of View alles wie mit einer Kamera aufzuzeichnen, stößt mich ab, klingt anbiedernd und hohl. Ich möchte als Leser eine gewisse Distanz, mir selbst aussuchen, wie nahe ich den Protagonisten kommen möchte. Dabei mag ich klassisches Pathos, aber weder Romantik noch Kitsch.
Michael Schmidt: Welche Autoren sind deine persönlichen Favoriten?
Silke Brandt: Lutz Bassmann! A.k.a. „Antoine Volodine“, aber prägnanter, kühler, gruseliger und noch düsterer. Auch wenn ich nicht versuchen will, ihren Stil zu imitieren (selbst, wenn ich das könnte), sind die Strugatzkis und Lovecraft – genau wie Gigers Kunst – meine „DNA“. Das hängt zum einen damit zusammen, dass sie damals zu meinen erstgelesenen Phantastikautoren gehörten, zum anderen, weil dort nicht der Mensch im Mittelpunkt steht. Bei den Strugatzkis geht es um politisch-philosophische Metathemen; bei Lovecraft ist nicht der Erzähler die Identifikationsfigur, sondern das Andere. Dazu: Jean Ray, Stefan Grabiński, Sigizmund Krzhizhanovsky, Sofi Oksanen, Robert Edric und die leider unübersetzte Tiina Raevaara; Metro 2033 und Shakespeares Tragödien.
Interview auf Lithopian zum 1. Platz beim Kurzgeschichten-Wettbewerb Mai 2011
Dotierte Ausschreibung „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm”. Das vollständige Interview auf der Veranstalterwebsite Litopian.de. Auszug:
Was ist dein Bezug zur Literatur?
Sie war immer Teil meines Lebens, von Kindheit an. Meine Mutter hatte schon damals weit über tausend Bücher – alles außer Liebesromane. Ich habe Shakespeare neben meinen Jugendbüchern gelesen; es gab auch immer Gespräche über Bücher, Filme, Psychologisches, ganz entspannt und beiläufig. Wenn ich versuche, selbst Literatur zu schaffen, möchte ich dabei etwas Neues lernen und Dinge erzählen, die ich so noch nicht gelesen habe. Anders als journalistisches Schreiben ist es eine schöne Möglichkeit, zu experimentieren, sich formell und stilistisch auszuprobieren.
Die Charaktere in deiner Geschichte und die genannten Orte bewegen sich vor allem in den baltischen Staaten bzw. allgemein in Osteuropa. Hast du eine besondere Verbindung zu diesen Orten? Woher entspringen deine Santtus und Evgenyas?
Ich habe lustigerweise den Osteuropa-Tick von meinem Vater, zu dem seit langem kein Kontakt mehr besteht; allerdings sind diese Regionen naheliegend, wenn man in Finnland wohnt. Und nicht so exotisch, denn hier werden kulturelle Verbindungen zu süd/östlich gelegenen Ländern viel stärker betont und gelebt. Osteuropäische Phantastik ist sehr kritisch, innovativ, philosophisch – da ich das als Vorbild nehme, ist es sinnvoller, die Geschichten auch in entsprechenden Regionen anzusiedeln. Dann möchte ich über Dinge schreiben, die mir nicht so vertraut sind, wie etwa meine Heimat Deutschland – ich möchte beim Schreiben nicht nur stilistisch, sondern auch inhaltlich etwas lernen. Hinter meinen Geschichten liegt fast absurd intensive Recherche, die dann nur zu einem kleinen Teil direkt im Text wiederzufinden ist. Meine Protagonisten werden ähnlich bestimmt wie das Setting: Ich nehme kleine Dinge meiner Biografie oder Persönlichkeit, und versuche, beim Schreiben hinter Beweggründe und Motive zu kommen. Angenehme wie unangenehme Seiten. Andererseits haben meine Figuren auch vieles, das mir völlig fremd ist – ich möchte versuchen, die Dinge mit anderen Augen zu sehen, durch eine Figur mir fremde Weltsichten zu erforschen.
Wird dein Protagonist jemals seinen Vater finden?
Nein. Würde der Protagonist nicht rein biologisch bedingt einen Vater brauchen, könnte man diesen als reine Fiktion sehen, aus der jeder etwas anderes dreht und die bei verschiedenen Personen völlig gegensätzliche Erinnerungen und Gefühle auslöst. Die Ukraine wird auch nur eine Zwischenstation sein.